Johann Gustav Gottlieb Büsching reiste auf der Suche nach Handschriften 1809 in das „klosterreiche Schlesien“. Dort entdeckte er zahlreiche wichtige alte Bücher, war aber über den verwahrlosten Zustand der Archive entsetzt. 1810 wurden in Breslau bis zu 6.000 Urkunden und Bilder, Kunstsachen und andere Altertümer aus 91 Klöstern und Stiften zusammengetragen.
Drei Monate vor Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm legte Büsching im Herbst 1812 eine Ausgabe mit Volks-Sagen, Märchen und Legenden vor. Die 104 nach Regionen gegliederte Stücke in 84 Texten umfasst bereits einige Texte, die später in Grimms Märchen erschienen. Aus der Grafschaft Glatz hat Büsching zwei Legenden in seiner Sammlung veröffentlicht.
Der historische und in Fraktur gedruckte Text dieser beiden Sagen aus der Grafschaft Glatz wurde in moderne Schrift übertragen und bereitgestellt von Christian Drescher.
Titel des Buches von 1812
Die heidnische Jungfrau im Schlosse zu Glatz.
Als die Grafschaft Glatz noch heidnisch war, lebte auf dem Schlosse zu Glatz eine Jungfrau, deren Namen uns die Sage nicht aufbewahrt hat, Heidin und versenkt in die größten Ueppigkeiten und Wollüste, dabei eine mächtige Zauberin. Bei ihr lebte ihr Bruder, den sie, wie die Sage geht, sich selbst als Gemahlin verbunden habe.
Mit wunderbarer Stärke begabt, vermochte sie mit ihrem Bogen vom Schlosse zu Glatz bis zu der großen Linde bei Eisersdorf, an der Gränze, zu schießen. Einst wettete sie mit ihrem Bruder, wer mit dem Bogen am weitesten schießen würde, und der Pfeil ihres Bruders erreichte kaum den halben Weg, sie aber reichte mit ihrem Pfeile aus dem Schlosse fast noch einmal so weit, bis zu dem gedachten Baume, der großen Linde bei Eisersdorf, und gewann so die Wette. Zum Zeichen soll man zwei spitze Steine errichtet haben, die man noch vor weniger Zeit gesehen. Außerdem zauberte sie auch und zerriß oft, zur Kurzweile, mit ihren Händen ein starkes Hufeisen; und weil sie eine Zauberin gewesen, ist es gekommen, daß, ob man ihr gleich zum besten nachgetrachtet, man sie dennoch eine Zeitlang nicht hat fangen können; denn durch ihre Zauberkünste ist sie immer wieder entronnen. Doch als man sie zuletzt erhascht, hat man sie in einem großen Saal, welcher sein soll beim Thore, dadurch man aus dem Niederschloß ins Oberschloß gehen kann, fest vermauert und darin umkommen lassen. Zu ewig währendem Gedächtniß ihres Todes und des Orts, allda sie elendiglich umgekommen ist, hat man an der Mauer über dem tiefen Graben, wenn man hinauf geht, zur linken Hand desselben Thores, bei welchem sich das Ober- und Niederschloß unterscheiden, ihr Bildniß, in einem Stein ausgehauen, eingemauert. Diesen ausgehauenen und eingemauerten Stein zeigt man noch bis auf diesen Tag allen fremden Leuten, welche gen Glatz kommen und das Schloß besuchen.
Von dieser heidnischen Jungfrau ist auch fast noch mehr denkwürdig anzuzeigen, daß ihr Bildniß auf dem grünen Saale im Schlosse zu Glatz zu etlichen Malen gar sauber und schön gemahlt gestanden hat. Dann, daß in dem heidnischen Kirchlein auf dem Schloß den fremden Leuten, welche dahin gekommen, solche zu besichtigen, der heidnischen Jungfrauen schönes gelbes Haar, an einem eisernen Nagel in der Wand hangend, gezeigt wird. Es hängt aber so hoch, daß es ein großer Mann, auf der Erde stehend, mit der Hand erreichen kann. Zuletzt erzählt man, daß sie in ihrer Gestalt und Kleidung, wie sie pflegt abgemahlt zu werden, noch öfters im Schlosse zu erscheinen pflegt. Solches Gespenst thut aber niemand etwas, es sei denn, daß jemand spöttisch und höhnisch von ihr redet. Wie man denn sagt, daß dies Gespenst einstmals zu einem Soldaten, der Schildwacht gestanden, gekommen sei und ihm einen Backenstreich mit einer kalten Hand gegeben habe, da er höhnisch von ihr geredet. Auch hat im Jahre 1621 ein Soldat das Haar der heidnischen Jungfrau aus der Kirche weggenommen, worauf das Gespenst in der Nacht zu ihm gekommen ist, in seiner gewöhnlichen Gestalt und hat ihn bis nahe an den Tod geschlagen, gekneipt und gekratzt, bis daß sein Rottgeselle das Haar, auf sein Begehren und Anhalten, wieder an den rechten Ort getragen hat.
Die große Linde bei Eisersdorf in der Grafschaft Glatz, nicht weit von der Stadt Glatz.
Von dieser Linde werden viele Fabeln erzählt, nehmlich, daß sie so alt sei, als der heidnische Thurm bei Glatz, und obgleich sie ein und das andere Mal verdorrt, wäre sie doch immer wieder ausgeschlagen. Auch Sibylla soll einst darauf gesessen und von der Stadt Glatz viel zukünftige Dinge geweissagt haben, wobei sie unter andern gesagt: die Türken würden bis gegen Glatz kommen und allda, durch die steinerne Brücke, hinein auf den großen Ring ihren Einzug halten, dort würden sie aber eine große Niederlage erleiden, da ihnen die Christen aus dem Schlosse herunter entgegen ziehen und sie auf dem Marktplatz daselbst erlegen würden. Solches würde aber nicht eher geschehen, es sei denn vorher eine große Menge Kraniche durch die Brodbänke geflogen.
Quelle: Büsching, Johann Gustav. Volkssagen, Märchen und Legenden, Erste Abtheilung. Reclam Leipzig, 1812 (S. 12-15)
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