Hochwasser von 1938 in der Grafschaft Glatz
Viele schlimme Erinnerungen knüpfen sich noch heute an das verheerende Hochwasser, das mit drei Fluten am 25. August, 1. September und 11. September 1938 die Täler der Grafschaft Glatz heimsuchte.
Heimat in Wassernot
Durch die Hochwasserkatastrophen vom 25. August, 1. und 11. September 1938 wurden die Täler unserer Grafschaft heimgesucht
Ein Blick in die Geschichte unserer Grafschaft lehrt uns, daß die Heimat recht oft im Laufe der Jahrhunderte von schweren Hochwasserkatastrophen heimgesucht wurde. Recht anschaulich wissen die Chroniken von diesen Wasserfluten zu erzählen und die geradezu furchtbaren Verheerungen sowie die Verluste an Menschen und Tieren erschütternster Weise auszumalen, so daß der aufmerksame Leser solcher Berichte es einfach für unmöglich hielt, daß sich jemals solch eine Katastrophe in der heutigen Zeit wiederholen oder ein Hochwasser die früheren Verheerungen übertreffen könnte. Die drei Unglückstage vom 25. August, 1. und 11. September 1938 aber haben den Grafschafter eines anderen belehrt. Die Hochwasserkatastrophen dieser drei Tage haben in ihren furchtbaren Auswirkungen selbst die schlimmsten Erwartungen übertroffen, so daß man namentlich von der Unglücksnacht des 1. September getrost behaupten möchte, es wäre diese Flutkatastrophe wohl die größte aller bekannten unserer Heimat gewesen. Wohl hat ein gütiges Geschick verhütet, daß Menschen und Vieh unmittelbare Opfer der reißenden Flut wurden. Der mit allen Mitteln neuzeitlicher Technik organisierte Warndienst, der gut ausgearbeitete Katastrophenschutz und die an allen Orten geübte Volksgemeinschaft haben das ihre getan, um Schlimmes zu verhüten.
Berücksichtigt man aber, daß zum Beispiel die hohe Hermann-Stehr-Brücke
in Glatz meterhoch von der Flut überspült wurde und das Wasser zwei Meter
hoch in der Glatzer Minoritenkirche stand, obwohl in den letzten Jahrzehnten die
Flußläufe unserer Heimat tiefer gelegt und reguliert wurden sowie Talsperren
in den Bergen das Wasser stauten, wird man zugeben müssen, daß bisher
wohl keine Hochwasserwelle der Grafschaft jemals solch hohe Wasserfluten zu Tale
brachte. Unermeßlichen Schaden hat unsere Heimat erlitten. Jahrhunderte später
wird man noch vom 1. September 1938 als dem denkwürdigen Tage furchtbarsten
Schreckens und grausigster Verwüstung in der Grafschaft erzählen.
Piltscher Wiesen, im Hintergrund die Pfaffenmühle
Noch viel schlimmer als in Glatz selbst sah es auf den Dörfern in den Flußtälern aus. Das breite Neißetal von Grafenort stromabwärts bis Glatz glich einem weiten See. Geradezu bedrohliche Ausmaße nahm das Hochwasser in Rengersdorf und Eisersdorf an. Fast alle im Tal gelegenen Gehöfte waren vom Wasser umgeben. Die Männer der Wehrmacht und des Reichsarbeitsdienstes retteten unter Einsatz ihres Lebens Menschen und Vieh. Auch in Habelschwerdt mußte die Feuerwehr zur Hilfeleistung alarmiert werden. Bis zu 70 Zentimeter Höhe wurde die nach Langenau führende Straße überschwemmt. In Niederlangenau und Grafenort nahmen die Überschwemmungen der Neiße ein besonders bedrohliches Ausmaß an. Immer weiter stiegen die Fluten an, die auf ihrem lehmgelben, schäumenden Rücken Getreidegarben der Bergbauern, schwere Bohlen, Scheunentore und entwurzelte Bäume dahintrugen. Bald waren in Glatz die
unteren Stadtteile überflutet, sodaß hier der Verkehr nur mit hochgebauten Lastwagen aufrechterhalten werden konnte. Reisende, die nach Glatz kamen, mußten schon am Hauptbahnhof die Züge verlassen, da man vom Stadtbahnhof nicht mehr in die Innenstadt gelangen konnte. Das allmählich zurücktretende Wasser ließ tief verschlammte Keller und Wohnungen im Erdgeschoß zurück, Schäden, die damals furchtbar erschienen, doch eine Woche später vom neuen Hochwasser um ein Vielfaches übertroffen wurden. In Eisersdorf durchbrach die Biele einen Schutzdarnm und riß die Wirtschaftsgebäude eines Landwirts mit. In Rengersdorf wurden zehn Morgen Hafer vollständig vernichtet. Im Oberdorf von Niederhannsdorf führten die Ausspülungen des Dorfbaches zu einem mehr als fünfzig Meter breiten Bergrutsch. In Königshain war die Straße auf weiten Strecken von Geröllmassen übersät. Die Heinzenbach in Heinzendorf
suchte sich ein neues Bett in der Dorfstraße. Ähnliche Schäden, besonders auch Flurschäden und Verheerungen an den Uferböschungen, wurden aus allen Orten in den Flußgebieten der Neiße und Biele gemeldet. Viele Landstraßen waren unpassierbar.
Während man allenthalben begann, die Schäden auszubessern, setzte am Dienstag, dem 30. August, ein neuer wolkenbruchartiger Regen ein, der die Biele und die Neiße erneut anschwellen ließ. Diesmal waren es die Steine und die Walditz, die den Gemeinden im Neuroder Land empfindliche Schäden brachten.
Noch lag am 1. September nächtliche Finsternis über den Tälern der oberen Neiße und Biele, als man die Bewohner der am Wasser liegenden Häuser weckte und das wertvolle Vieh zu bergen begann. Der zweite schwarze Donnerstag brach an. Wieder waren die Flüsse und Bäche infolge der andauernden Regenfälle angeschwollen. Eine neue Hochwasserwelle, viel schlimmer als die der Vorwoche, rauschte talwärts. In Glatz läutete man die Sturmglocke des Rathauses. Bald setzte die Neiße den Holzplan in Glatz unter Wasser. Eine Alarmmeldung nach der anderen aus den flußwärts gelegenen Gemeinden ließ Furchtbares vorausahnen. In den frühen Nachtmittagsstunden wurden denn auch sämtliche unteren Stadtteile überschwemmt. Schließlich war es auch den hochgebauten Lastwagen nicht mehr möglich, durch die Fluten des Platzes der SA und über den Roßmarkt nach der Innenstadt zu gelangen. Die hochgelegene Schleusenbrücke
in der Frankensteiner Vorstadt bildete die ganze Nacht über und am Freitagvormittag die einzige Verbindung der beiden Stadtteile. Mehr und mehr stieg bis Mitternacht die Hut, die die Hermann-Stehr-Brücke überschwemmte und mit gurgelndem Rauschen durch die Mioriten- und die Roßstraße zwei Meter hoch hindurchschoß. Gegen 21 Uhr gellten überall in der Unterstadt die Hilferufe der in ihren Häusern eingeschlossenen Bewohner. Unter Einsatz ihres Lebens versuchten Soldaten und Feuerwehrmänner besonders gefährdete Menschen in Sicherheit zu bringen. Bei der herrschenden Dunkelheit arbeiteten die Männer des Katastrophenschutzes, bis über die Brust im Wasser stehend, nur an Seilen gesichert. Die Mauer des Klosters an der Minoritenstraße konnte dem ungeheuren Wasserdruck nicht mehr standhalten. In der Minoritenkirche wirbelte die reißende Flut die Bänke durcheinander. Vor dem Bernhardtschen Grundstück gegenüber der Kirche
staute sich das Wasser. Es unterspülte das Haus, das in seinem Mittelteil schließlich in sich zusammensank. Die Hausbewohner hatten sich nach dem Hausgiebel an der Roßstraße geflüchtet. Nach vielen Mühen gelang es der Feuerwehr und der Wehrmacht am Brücktorberg eine Schiebeleiter aufzustellen und dadurch eine mehr als 20 Meter lange, schwankende Verbindung zu einer Dachluke des gefährdeten Hauses über die hoch überflutete Straße zu schaffen. Beim unsicheren Fackelschein konnten etwa 20 Personen über diese Leiter gerettet werden. Mit Schlauchbooten und langen Leitern holte man dann noch die Bewohner von vier anderen Häusern der Roßstraße aufs Trockene herüber. Hier wie auch überall auf dem Lande legten die mutigen Helfer so manche Probe stillen Heldenmutes und beispielloser Opferbereitschaft ab.
Nach dem Fallen der Wasserfluten wurden am kommenden Tage die Verheerungen in geradezu erschütternder Weise sichtbar. In den Läden, den Hotels und unseren Wohnungen lag hoch der Schlamm, die Straßen waren aufgerissen. Der Verkehr am Stadtbahnhof Glatz war für mehrere Tage unmöglich. Infolge des Zusammenbruches der Rengersdorfer Eisenbahnbrücke wurde die Strecke nach Landeck und Mittelwalde unterbrochen, so daß ein Autopendelverkehr zwischen Glatz und Rengersdorf eingerichtet werden mußte. Doch auch der Kraftwagenverkehr war durch den Einsturz mehrer Straßenbrücken stark behindert. In Glatz selbst wurden die große eiserne Roßbrücke und der Neulandsteg weggerissen. Das Niederhannsdorfer Wasser unterspülte die Brücke der Reichsstraße im Vorort Neuland. Die Betonbrücke bei Neißgrund war ebenfalls ein Opfer der Fluten geworden. Die Straße durch Mühldorf wurde bis auf den felsigen Untergrund
weggespült. Die Reichsstraße unterhalb von Habelschwerdt, die Landecker Straße in Ullersdorf und Kunzendorf sowie die Straße Bad Landeck - Habelschwerdt bei Kunzendorf wurden an mehreren Stellen unterbrochen. Auf eine weite Strecke war die Straße Glatz - Königshain ein Trümmerfeld.
Im Neißetal wies die Gemeinde Rengersdorf, die zum größten Teil unter Wasser gesetzt wurde, die ärgsten Verheerungen auf. Nicht minder schwer wurde Grafenort betroffen. Das Engtal der Neiße bildete bei Habelschwerdt einen langen See. Die Wölfeltalsperre lief in einer Höhe von 72 Zentimetern über. In dem an der Grenze gelegenen Neißbach ereignete sich am Appenbusch ein breiter Erdrutsch, der die Neiße sperrte. Noch viel schlimmere Verwüstungen führte die Biele in ihrem Mittel- und Unterlauf herbei. In den Dörfern Kunzendorf, Ullersdorf und Eisersdorf brachen zahlreiche Dämme, so daß sich die Fluten über das breite Tal ergossen. Unter größter Lebensgefahr bargen in diesen Gemeinden die freiwilligen Helfer Menschen und Vieh. Verhindern konnten sie es trotz aller Opferbereitschaft und größten Wagemutes nicht, daß in Kunzendorf eine ganz Wirtschaft weggespült wurde, in Ullersdorf zahlreiche
Brücken und Stege einstürzten und in Eisersdorf genauso wie in Ullersdorf schwere Schäden an vielen Häusern, sofern sie nicht etwa völlig zerstört wurden, angerichtet wurden. Unter einer dichten Schicht von Steinen, Schlamm und Geröll liegen jetzt die einst grünen Wiesen und fruchtbaren Felder. Der Fleiß des Bauern ist auf Jahre hinaus vernichtet. Ungeheuer groß sind auch die Schäden an den Straßen und Wegen, die zum Teil unpassierbar wurden, so wie z.B. in Heinzendorf, wo die gesamte Dorfstraße von der Heinzenbach fortgerissen ist. Ähnliche Bilder - wenn auch nicht in diesem furchtbaren Ausmaß - bieten das obere Bieletal von Bielendorf bis Landeck und vor allem die Gebirgstäler der Mohre, der Kamnitz und der Klesse.
Im Hochtal der Erlitz brachten ergiebige Regenfälle dem Grenzfluß eine Hochwasserflut, wie man sie hier schon lange nicht mehr erlebte. Mit großem Getöse stürzte das reißende Wildwasser durch Kaiserswalde, Langenbrück, Stuhlseifen und Freiwalde talwärts.
In Wartha, der vielgerühmten goldenen Pforte der Grafschaft nahm die Hochwasserkatastrophe ein bisher noch nie dagewesenes Ausmaß an. Die Bodenstraße war vollkommen unter Wasser. Eine Turnhalle wurde dort schwer beschädigt, das Verkehrshäuschen an der Warthabrücke, die das Wasser talaufwärts anstaute, wurde weggeschwemmt. Der Weg zum Warthaberg und nach Johnsbach wurde vollkommen weggerissen.
Auch die Steine uferte während dieser Schreckenstage aus, besonders am 30. August, und ebenso führte die Reinerzer Weistritz Hochwasser mit sich, doch ohne daß sich hier zunächst die gleichen katastrophalen Folgen zeigten, wie im Neiße- und Bieletal. Erst ein in der Nacht zum 11. September im Heuscheuergebirge und im Hummelgebiet niedergehender Wolkenbruch brachte für die linken Nebenflüsse der Neiße ähnliche Verheerungen. Die Bäder Altheide, Reinerz und Kudowa wurden schwer mitgenommen. Meterhoch schossen die Fluten die Hauptstraße in Altheide entlang. In schwere Wassersnot gerieten Niederschwedeldorf an der Weistritz, Ober- und Niederrathen an der Posna sowie alle am unteren Steinelauf gelegenen Gemeinden. In Schnellau an der Reichsgrenze überflutete die Schnelle weite Strecken. So wurde die gesamte Grafschaft in allen ihren Teilen von dem verheerenden Hochwasser betroffen.
Blühendes Land wurde mit einem Schlage im Glatzer Bergland vernichtet. Schier verzweifeln müßten unsere von der Katastrophe so empfindlich betroffenen Grafschafter Landsleute, könnten sie nicht auf die Hilfe der großen Volksgemeinschaft bauen, die sich ja auch während der Schreckenstage an allen Orten vorbildlich bewährte, als es galt, sich einzusetzen für des Nachbarn Leben und Gut.
F. M.
Aus: „Glatzer Chronik“ in „Die Grafschaft Glatz“ vom 15. September 1938
Die in Glatz herausgegebene Zeitung „Grenzwacht“ brachte am
2. September 1938 dazu einen Bericht, der als Aufmacher auf der ersten
Seite die dramatische Situation im Stadtgebiet mit folgender Schlagzeile schilderte:
Schreckensnacht über Glatz
Gellende Hilferufe in der Nacht - Hauseinsturz am Roßmarkt
Menschen aus höchster Gefahr gerettet - Stilles Heldentum
Glatz, 2. September 1938
Durch Hochwasser eingestürztes Haus am Roßmarkt
In Glatz gießt es in Strömen. Seit mehreren Tagen
geht unaufhörlich der Regen nieder. In den Nachmittagsstunden steigert er sich
zum Wolkenbruch. Das Wasser der Neiße, das tobend schon durch die Straßen
der niederen Altstadt schießt, schwillt immer höher an. Oben am uralten
Brücktorberg stehen die Glatzer Einwohner und fragen sich, wann dieser Regen
endlich nachlassen wird. Die Not und die Angst steigen von Stunde zu Stunde.
Glatz - Blick von der Schleusenbrücke flußaufwärts
auf die Neiße und den überfluteten Mühlgraben
Die Nacht bricht herein. Die trostloseste Nacht, die die Grafschaft
seit vielen Jahrzehnten erlebte. Das Hochwasser spült schon längst über
sämtliche Flußübergänge. Es stemmt und stößt gegen
die eisernen Bogen der Konigshainer Brücke, die dem übergroßen Druck
nicht länger widerstehen kann, schließlich krachend in den tobenden Fluten
verschwindet. Dabei werden die Licht-, Gas- und Wasserleitungen zerrissen. Durch die
völlige Dunkelheit, die nun eintritt, tönt lauter und beängstigender
das Rauschen der hochgehenden Flut. Am Brücktorberg und am Badersteig am Ufer
des Mühlgrabens entlang lodern Fackeln. Scheinwerfer geistern durch das Dunkel
und suchen Menschen, deren Hilferufe irgendwo aus der Finsternis heraus kommen.
Hochwasserschäden in der Roßstraße
Von allen Seiten schreit es jetzt. Aber die Strömung, die
vier Meter hoch über den Holzplan jagt und sich um die Minoritenkirche stößt,
ist zu schnell und zu gefährlich geworden, als daß bei dieser Dunkelheit
noch an Hilfeleistungen für die vom Wasser Eingeschlossenen gedacht werden darf.
Ein Teil von ihnen hat zudem ihr trauriges Los selbst verschuldet. Mehrfach wurde
ein Baumeister am Holzplan von der Wehrmacht und Männern der Gliederungen aufgefordert,
das Haus zu verlassen. Immer wieder erhielten die Bergungskommandos den starrköpfigen
Bescheid: „Wir bleiben hier, wir geben später Notzeichen, dann könnt ihr
uns holen.“
Hochwasser in der Herren(Sudeten)straße
Menschen treiben in der Strömung
Als die Notzeichen kommen, ist es zu spät. Zwei Mann, eine junge Frau und zwei
kleine Kinder müssen in dem vom Wasser umtosten, einsam gelegenen Haus eine
furchtbare Nacht verbringen, ehe am Morgen des nächsten Tages Hilfe kommt. Schrecklich
klingen die Hilfeschreie von der Tankstelle auf der Minoritenstraße, unter
deren Dach drei Neugierige sitzen, die schließlich vom Wasser abgeschnitten
wurden. Politische Leiter, Männer der Gliederungen, Feuerwehr und Soldaten versuchten
diese drei Mann zu retten. Nach vielen Fehlschlägen gelingt es dem städtischen
Angestellten Willi Breitkopf und einem Offizier, nach einer halsbrecherischen Klettertour
am Hausgesims entlang, den Männern ein langes Rettungsseil zuzuwerfen, mit dem
sie sich in der Strömung bis zum Brücktorberg treiben lassen, wo sie von
herbeieilenden Helfern geborgen werden.
In Halbendorf inzwischen hat die Feuerwehr einen alten Mann, der bis zum Unterleib
im Wasser saß, gewaltsam aus der Wohnung entfernen müssen. Ferner wurden
drei alte Frauen, die auf vielfaches Rufen nicht einmal antworteten, aus ihrer Wohnung
geholt, wo sie sich ebenfalls schon in höchster Lebensgefahr befanden.
Heldentat eines Arztes
Eine besonders schneidige Tat vollbringt der Stabsarzt Dr. Hesse, der zu einer Frau
gerufen wird, die der Entbindung entgegensieht. Er läßt sich mit einem
Seil den Brücktorberg herunter, klettert an einem Haussims entlang, steigt in
eine Wohnung ein, dann verläßt er das Haus wieder, kriecht auf allen Vieren
über das leichtgebaute Transparent einer Autoreparaturwerkstatt, um von da auf
einem schmalen Haussims die Wohnung der Frau zu erreichen.
Während in den hochgelegenen Stadtteilen völlige Ruhe herrschte, stauen
sich Kraftfahrzeuge und Menschen oben am Ring, an dem Wassertor, an der Frankensteiner
Straße und wiederum am Brücktorberg.
Die Stadt Glatz und die ganze Grafschaft haben, wie wir es ja aus ihrer wechselvollen,
an traurigen Ereignissen so reichen Geschichte zur Genüge wissen, so manches
Hochwasser über sich ergehen lassen. Doch kaum je zuvor erlebte Glatz eine derart
furchtbare Schreckensnacht wie die zum heutigen Freitag. Mit Bangen sahen die Einwohner
der Stadt dem Unheil entgegen, das die Nachtstunden bringen mußten, da der
unaufhörlich niedergehende wolkenbruchartige Regen ein weiteres Ansteigen der
Neißefluten über den Höchststand der vorigen Hochwasserkatastrophe
erwarten ließ. So wälzte sich denn auch ein breiter reißender, stetig
bis nach Mitternacht ansteigender Strom durch die Straßen der unteren Stadtteile
von Glatz, der viele Menschenleben in Gefahr brachte. Durch das Dunkel der Nacht,
in welchem nur das unheimliche Rauschen und Brausen der entfesselten Wassermassen
und die gellenden Hilfeschreie der vom Wasser eingeschlossenen Menschen zu vernehmen
waren. Dem heldenmütigen und opferbereiten Einsatz von Wehrmacht, Parteigliederungen,
Reichsarbeitsdienst und der Technischen Nothilfe sowie aller im Katastrophendienst
eingesetzten Männer ist es zu verdanken, daß die schwersten Katastrophen
wenigstens verhindert wurden. Zur Zeit ist der Schaden in Stadt und Land überhaupt
noch nicht zu übersehen, da noch in den Morgenstunden von allen Seiten alarmierende
Nachrichten eintreffen. Ob Menschenleben zu beklagen sind, dürften erst die
nächsten Stunden zeigen.
Eine nächtliche Tragödie
Oben im Rathause liegt das Hauptquartier des Katastrophendienstes. Ununterbrochen
läutet der Fernsprecher. Zwischen durchnäßten Männern, Politischen
Leitern, Soldaten, zwischen kommenden und gehenden Feuerwehrmännern, Polizeibeamten
und Männern von der Technischen Nothilfe sitzen frierende Menschen, die aus
bedrohten Häusern gerettet wurden. Sie werden in das städtische Krankenhaus
gebracht, wo man zahlreiche Notlager eingerichtet und für ihre Verpflegung gesorgt
hat.
Unten am Brücktorberg, wo der reißende Strom sich zwischen den engen Straßen
am Roßmarkt ein neues Bett ufert, spielt sich zur Zeit das tragischste Kapitel
der furchtbaren Katastrophe ab. Das Wasser jagt aus der Minoritenstraße nach
der Hermann-Stehr-Brücke und in die Roßstraße hinein, es teilt und
stößt sich vor dem alten Giebelhaus des Optikers Donkel. Oben an den erleuchteten
Fenstern im ersten Stock sieht man Erwachsene und die Lockenköpfe kleiner Kinder.
Oberst Hesse leitet hier zusammen mit dem Wehrführer von der freiwilligen Feuerwehr
die nun einsetzenden Rettungsarbeiten. Bei ihnen sind Kreisleiter Kittler, der heute
schon den ganzen Tag im gesamten Notstandsgebiet gewesen ist; Bürgermeister
Schubert, der Vertreter des Landrats, Assessor Hicke, die Führer der technischen
Nothilfe. Scheinwerfer gleiten über das unheimlich tobende Wasser an den Häuserfronten
entlang, aus deren Fenstern überall angstvolle und schreiende Menschen schauen.
Allen, die am Brücktorberg stehen, ist es klar, daß das Haus des Optikers
Donkel nicht mehr lange dem ungeheuren Druck des Wassers widerstehen kann. Das Wasser
hat schon längst unten die Scheiben der Geschäfte zertrümmert und
das Haus selbst in seinen Grundfesten erschüttert.
Da zeigt sich noch einmal an einem der Fenster im ersten Stock ein Kerzenlicht, im
nächsten Augenblick ist es verschwunden, und - in der nächsten Sekunde
beginnt sich der Giebel zu neigen. Donnernd kracht die Vorderfront des Hauses zusammen.
Eine riesige schwarze Wunde mit einem Gewirr von Dachsparren, Mauertrümmern,
zerfetzten Fenster- und Türrahmen ist mitten in dem Haus entstanden. Scheinwerferlicht
zittert über die Stätte der Verwüstung. Wie viele Menschen liegen
unter den Trümmern? Diese bange Frage beherrscht alle. Jetzt heißt es,
zu retten, was noch zu retten ist. Das vorher schier Unmögliche wird möglich
gemacht. Der Wagen mit der großen ausziehbaren Feuerwehrleiter rollt vorsichtig
in die reißende Strömung, von vielen freiwilligen Helfern an starken Tauen
festgehalten.
Nach mehrfachen Versuchen greift die Leiter endlich auf das noch stehengebliebene
Teil des Daches. Ein Feuerwehrmann klettert schnell die wippenden Sprossen empor.
Im Scheinwerferlicht blitzt eine Axt, Dachziegel splittern und regnen klatschend
ins Wasser. In atemloser Spannung verfolgen die Drübenstehenden das Wagnis.
Endlich ist der Mann in dem Loch des Daches verschwunden. Seile laufen über
die Leiter, Soldaten eilen nach, mit einem kleinen Mädel im Arm kommt der erste
Retter über die Leiter zurück. Das Kind weint nach der Mutter, die jetzt
auf allen Vieren über die Leiter kriecht. Dann geht die Rettungsarbeit flott
vonstatten. Sämtliche Hausbewohner - alle haben sich vor dem Einsturz noch glücklich
retten können - werden geborgen. Die Feuerwehr dringt in die Nebenhäuser
der Roßstraße und lotst hier mit Hilfe der Soldaten Männer, Frauen
und Kinder über die Leiter. Nach mehr als einer Stunde ist die Rettungsarbeit
beendet.
Dann werden die Bewohner des großen Eckhauses am Brücktorberg von der
Wehrmacht geborgen. Soldaten, SA und Feuerwehr durchbrechen die Wände und Dächer
der gefährdeten Häuser in der schwer bedrohten Roßstraße und
bringen über Leitern die Menschen in Sicherheit. Gegen 4 Uhr morgens beginnt
das Wasser langsam zu fallen. Im Tagesgrauen sind die Rettungsarbeiten beendet. Der
Regen läßt nach. Lehmig gelb wälzt die Neiße an zerstörten
Häusern, vernichteten Brücken und zerrissenen Straßen vorbei ihre
Fluten durch die Stadt Glatz, in der in einer Nacht mehr Existenzen vernichtet wurden,
als in Jahren wieder aufgebaut werden können.
Zahlreiche Brücken eingestürzt
Bis Freitag 9.30 Uhr ist bekannt, daß in Glatz selbst bzw. in der näheren
Umgebung zahlreiche Brücken zerstört wurden. In Glatz barst die Roßbrücke,
die das Königshainer Viertel mit dem Roßmarkt verbindet. Der Neulandsteg
am Holzplan, der bereits gestern abend überflutet wurde, ist vollkommen weggerissen.
Die Brücke im Neißetal unterhalb Glatz, durch die die Gemeinden Neißtal
und Neißgrund bisher verbunden wurden, ist gleichfalls ein Opfer der reißenden
Fluten geworden. Gegen 8 Uhr früh ist die beim Bahnhof Rengersdorf über
die Biele führende Reichsbahnbrücke eingestürzt, nachdem man vergeblich
versucht hatte, sie durch Vorwerfen von sechs Waggons Steinen zu erhalten. Schon
seit Donnerstag abend hatte man den Eisenbahnverkehr auf den Strecken nach der oberen
Grafschaft stillegen müssen. Ferner wird gemeldet, daß der massive Steg
in Oberrengersdorf zerstört ist. Viele Brücken und Stege der oberen Grafschaft
sind weggeschwemmt worden.
Die von den Fluten weggeschwemmte Königshainer Brücke liegt im Flußbett.
Dahinter die Häuser an der Bleiche.
Glatz ohne Strom und Gas
Die Hochwasserfluten in Glatz haben die Stromkabel der elektrischen Leitungen zerstört
und damit auch unsere Setzmaschinen und Rotationsmaschinen außer Betrieb gesetzt.
Wir bringen heut eine im Handsatz gesetzte Notzeitung heraus. Eine große Zahl
der uns aus allen Teilen unseres Verbreitungsgebietes zugehenden Hochwassermeldungen
mußte daher zurückgestellt werden.
aus: „Grofschoaftersch Häämtebärnla“ Jahrbuch 1998
der Grafschaft Glatz, Seiten 110-118
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