Als vor zehn Jahren die Menschen im Osten die Freiheit erkämpften, war kaum absehbar, daß sie einen schwierigen Transformationsprozeß auf den Weg bringen sollten. Auch die schlesischen Gebirgsregionen blieben von den komplizierten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen nicht verschont. Weder im Waldenburger Bergland, noch im Revier um Neurode dreht sich heute eine Seilscheibe. Im Frühjahr schloß in Schlegel das letzte Bergwerk. Auch wenn die Kumpels noch Glück im Unglück haben und vom Staat in das Frührentnerdasein entlassen werden, ist die Arbeitslosigkeit enorm. Zwischen Waldenburg und Glatz ist jeder Vierte ohne Arbeit, und nur jeder Achte von ihnen erhält Arbeitslosenunterstützung.
Vor acht Jahren, als die industrielle Abwicklung ihren Anfang nahm, gründeten Einwohner aus dem nordwestlichen Teil der Grafschaft Glatz die „Stiftung zur Erneuerung der Region Neurode“, um aktiv am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau teilzuhaben. Im Vordergrund ihrer in der Satzung formulierten Aufgaben stand, die durch den wirtschaftlichen Zustand bedingte regionale kulturelle Öde auszufüllen. Dazu zählte sie die Rettung alter Kulturgüter, sie in Schutz zu nehmen und zu pflegen, aber auch das Aufarbeiten der vergangenen regionalen Geschichte und Kultur, die den Menschen, die sich in der verarmten Bergbaustadt nach dem Krieg niederließen oder geboren wurden, weitestgehend fremd blieb. Die heterogene westpolnische Gesellschaft war zwar in den ostdeutschen Gebieten angekommen, ihr blieb aber das Wesen einer Heimat, die einen Bezugspunkt im Menschenleben und Geborgenheit - gerade in den Zeiten von Armut und Not - spendete, unbegreiflich.
Die natürlichen Verbündeten der Stiftung auf allen Gebieten waren die Deutschen, die vertriebenen Einwohner Neurodes und der Grafschaft Glatz, die seit den 1970er Jahren immer häufiger in die alte Heimat als Besucher für einige Tage heimkehrten und zwangsläufig auch Kontakt zu den neuen Bewohnern suchen mußten, wollten sie ihre früheren Höfe, Häuser und Wohnungen betreten, schreibt Teresa Bazala in einem von der „Ziemia Klodzka“ („Glatzer Land“) veröffentlichten Rückblick auf die bisher geleistete Arbeit der Neuroder Institution. Dabei kann sie auf eine lange Liste mit Projekten verweisen, die nicht zuletzt dank der Zusammenarbeit mit Heimatvertriebenen aus der Grafschaft Glatz, wie beispielsweise Georg Hoffmann († 28.05.2019) oder Herbert Gröger, verwirklicht werden konnten. Als Beispiele führt sie die Einrichtung eines Joseph-Wittig-Museums in Schlegel-Neusorge an, das außer montags von 10 bis 17 Uhr geöffnet ist, ebenso die Renovierung der Georgenkapelle in Bad Landeck und die Einsegnung der restaurierten Bergmannsstätte auf dem Friedhof von Neurode. 1998 feierten frühere und heutige Einwohner von Neurode gemeinsam das 250jährige Jubiläum „ihrer“ Nikolauskirche. Seit Jahren nehmen Mitglieder der Stiftung auch an den Bildungswochenenden des Pastoralrates der Grafschaft Glatz in Möhnesee-Günne teil, die „das Wissen über unsere Region zu vertiefen“ helfen. Im Mittelpunkt steht jedoch die Person von Joseph Wittig. Zusammen mit den Grafschaft Glatzern organisierte die Stiftung 1997 und 1999 Tagungen über das Leben und Werk des Theologen. Eine Auswahl seiner Kurzgeschichten und historischen Aufsätze sind bislang in zwei deutsch-polnischsprachigen Büchern vom Neuroder Verlag der dreisprachigen „Ziemia Klodzka“ herausgegeben worden. Hier erscheinen aber auch Bücher mit alten schlesischen Sagen und Geschichten sowie Alben mit Fotos aus deutscher Zeit.
Die heutige Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen in der Nordwestecke des „Herrgottswinkels“ ist inzwischen fast frei von Stereotypen und Vorurteilen. Sie konnte eigentlich erst durch die Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit dieser Erde und der polnischen Gegenwart mit all ihren Problemen diese Ebene des Dialoges und der gegenseitigen Achtung erreichen, trotz der von beiden Seiten beklagten Sprachbarrieren. Aber dieser Zustand des Dialoges war vor acht Jahren überhaupt noch nicht vorhersehbar. Anfangs, so Bazala, waren einige Stiftungsmitglieder ganz befangen von der „deutsch-feindlichen Propaganda“, der „eigenartigen Angstpsychose vor der Rückkehr der Deutsehen“. Gerade bei der Jugend habe die Schule gewirkt, wo zwar nichts über die Geschichte und Kultur der Glatzer Region gelehrt wurde, aber doch Zeit genug blieb, sie „im Sinne der Abneigung und sogar der Feindlichkeit zu allem, was deutsch war,“ zu erziehen. „Es fehlte die Zugehörigkeit zur Heimat.“ Nur langsam und mit Sensibilität konnte das Eis in Neurode aufgebrochen werden, was auf deutscher Seite kaum anders gewesen sein dürfte. In dieser Anfangsphase ihrer Tätigkeit sah die Stiftung „die Klarstellung der gemeinsamen Geschichte und die Schaffung von Bedingungen zur regionalen Erziehung der sogenannten „kleinen Heimat“, zur Rettung der noch nicht zerstörten Kulturdenkmäler.“ Heute würden viele das Schicksal der Deutschen bedauern, aus der Heimat vertrieben worden zu sein, vor allem von jenen, die den ehemaligen Osten Polens nach 1945 verlassen mußten und das gleiche Schicksal des Heimatverlustes erlebten. Es zeige sich langsam das Bedürfnis, schreibt Teresa Bazala, die Gegenwart mit dem kulturellen Erbe zu verbinden. Mit dem Dialog wachse die Verantwortung für diese Region und ihrer Geschichte, und „die Bevölkerung wird langsam frei von Ängsten, Befürchtungen und Voreingenommenheiten“. Dennoch plagt die „Stiftung zur Erneuerung der Region Neurode“ eine große Sorge, die in Deutschland bei allen denen ungläubig aufstoßen dürfte, denen bereits das Wort „Schlesien“ die Nackenhaare zu Berge stehen läßt.
Je mehr die Zahl der in der Grafschaft Glatz geborenen Deutschen ahnähme, desto geringer würde in Deutschland auch das Interesse an dieser Region, so die Stiftung. Die Kinder und Kindeskinder der vertriebenen Deutschen „interessieren sich wenig für die Heimat“ ihrer Vorfahren und somit zwangsläufig auch weniger für die Probleme von heute. Man müsse sich Gedanken machen, fordert Teresa Bazala, „auf welche Weise man in ihnen das Interesse wecken könnte.“ Die aufgerissenen Wunden können erst dann verheilen, wenn beide betroffenen Bevölkerungsgruppen miteinander sprechen und zusammenarbeiten können, aber dazu werden zunehmend die Nachfahren der alten Neuroder gebraucht.
Renate Pistellok
aus: „SCHLESIEN HEUTE“ Nr. 10/2000, S. 57 (Bestellanschrift: Brüderstraße 3, D-02826 Görlitz/Schlesien, eMail: sheute@poczta.onet.pl)
mit freundlicher Genehmigung der Monatszeitung „SCHLESIEN HEUTE“ hier veröffentlicht
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Erste Version vom 26.12.2000, letzte Aktualisierung am 16.06.2021.