Den Reigen der Vorträge eröffnete Prof. Dr. Arno Herzig (Hamburg) mit einem Durchgang durch „Das protestantische Jahrhundert der Grafschaft Glatz (1530-1630)“. Im Nachhinein ist kaum vorstellbar, daß der Herrgottswinkel, wie die Grafschaft Glatz gern bezeichnet wurde, einmal für ein Jahrhundert protestantisch war. Dabei schien zunächst nichts darauf hinzudeuten, daß sich die Grafschaft Glatz 1530 der Reformation öffnen würde, hatte doch ein Jahrhundert zuvor die Durchsetzung des Utraquismus, einer Spielart der aus Böhmen stammenden hussitischen Konfession, keine Chance gehabt. Nach dem Tod des böhmischen Königs und Glatzer Landesherren Georg von Podiebrad 1471 kehrten seine Söhne zum Katholizismus zurück. 1501 verkauften die Podiebrads die Grafschaft Glatz, was eine Reihe von unterschiedlichen Pfandschaften zur Folge hatte, die das Eindringen reformatorischer Bewegungen begünstigte. Schon 1524 hörte man in Glatz von Anhängern und Predigern der lutherischen Lehre, dazu gesellten sich ab 1527 Befürworter des schlesischen Mystikers und Reformators Caspar von Schwenkfeld, der Wiedertäufer im Zentrum von Habelschwerdt sowie anderer reformatorischer Sekten. Diese konfessionelle Gemengelage führte allmählich zu einem Niedergang des religiösen katholischen Lebens, 1540 gab es im Minoritenkloster nur noch zwei Mönche. 1570 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Schwenkfeldern. Kaiser Rudolf II., zugleich König von Böhmen, wurde aufgefordert, die Schwenkfelder auszuweisen. Auch das Konzil zu Trient, das sich als Gegenreformation verstand, zeigte in der Grafschaft Glatz seine Wirkung. Die mit der Rekatholisierung beauftragten Jesuiten hielten Ende des 16. Jahrhunderts Einzug in Glatz, ebenso kehrten 1605 die Minoriten zurück. Trotz einer gewissen wirtschaftlichen Konsolidierung gelang es den Jesuiten nicht, die lutherische Lehre in der Grafschafter Bürgerschaft zu verdrängen. Der böhmische Landtag hatte Ferdinand, der 1617 zum König von Böhmen gewählt worden war, wegen Verletzung des Majestätsbriefes (Toleranz gegenüber allen Konfessionen) abgesetzt und an seiner Stelle Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, einen Calvinisten, zum böhmischen Herrscher gewählt. Ferdinand, der 1619 zum Deutschen Kaiser gewählt worden war, schloß sich mit den kath. Fürsten zu einem Feldzug gegen Böhmen zusammen. Nach dem Sieg des kaiserlichen Heeres am Weißen Berg bei Prag ging Ferdinand gegen alle Widersacher vor, zu denen auch die Grafschaft Glatz zählte, die bis 1622 Widerstand geleistet hatte. Das Strafgericht gegen die Grafschaft und Stadt Glatz fiel hart aus: Die Rechte des Adels, der Städte und der Freirichter wurden aufgehoben, die protestantischen Adelsgeschlechter und Pfarrer des Landes verwiesen, der evangelische Gottesdienst verboten. Hinzu gesellten sich nach 1630 durch die marodierenden schwedischen Truppen Grausamkeiten, Hungersnöte, Seuchen und Zerstörungen, so daß die Grafschaft Glatz 1648 einem Trümmerhaufen glich. Erst allmählich normalisierte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Leben in der Grafschaft Glatz mit seiner typischen Ausprägung des Barockkatholizismus.
Einen religiösen Bezug hatte auch der zweite Vortrag des Tages: PD Dr. Michael Hirschfeld (Vechta) referierte über „Sozial-karitative weibliche Orden in der Grafschaft Glatz - Professioneller Dienst am Menschen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts“. Die vermehrte Gründung von sozial-karitativen weiblichen Kongregationen muß im Zusammenhang mit Veränderungen des Gesundheitssystems seit 1850 gesehen werden. Armut, Hungersnöte, Krankheiten, Seuchen und Alkoholmißbrauch schufen ein reiches Betätigungsfeld für die Ordensfrauen. Der Boom wurde nur kurzzeitig durch den Kulturkampf im Deutschen Reich gestoppt. Erstreckte sich das Betätigungsfeld der Orden zunächst nur auf die Städte in der Grafschaft Glatz, so konnte mit der Gründung des Caritasverbandes 1913 ihr segensreiches Wirken auf die Dörfer ausgeweitet werden. Nach dem Ersten Weltkrieg ist kein signifikanter Ordenszuwachs mehr zu verzeichnen. Am Beispiel der Mauritzer Franziskanerinnen erläuterte der Referent Entstehung und Herkunft der Kongregationen. 1844 in Telgte gegründet, ereilte sie 1848 der Ruf zur Beseitigung des Hungertyphus in Oberschlesien. Auf der Reise dorthin machten die Schwestern Station beim Breslauer Fürstbischof Melchior Kardinal von Diepenbrock (1798-1853), der einem Bocholter Patriziergeschlecht entstammte. Nachdem die Schwestern in Oppeln ihre Aufgabe beendet hatten, kamen sie 1852 in Glatz zum Einsatz, da der damalige Bürgermeister die Betätigung der Grauen Schwestern nicht wünschte. Da die Zahl der Mauritzer Franziskanerinnen wuchs, wurde 1903 in Ullersdorf eine schlesische Ordensprovinz gegründet. Ein ähnlicher West-Ost-Transfer läßt sich auch bei den Borromäerinnen beobachten; ebenfalls holte Bischof Diepenbrock die Vinzentinerinnen und die Armen Schulschwestern in seine Diözese und begründete die Kongregation der Grauen Schwestern. Neben dem Bischof waren es vor allem die Ortspfarrer, Honoratioren und lokaler Adel, die die Aktivitäten der Kongregationen durch den Kauf von Gebäuden und Einrichtung von Krankenhäusern förderten. Ohne die Ordensfrauen hätte es allerdings keine karitativen Einrichtungen gegeben. Träger der Krankenhäuser und Hospize waren die Kommunen sowie milde Stiftungen mit Korporationsrecht, in der späteren Gründungswelle traten auch Pfarreien und Caritasverbände als Träger in Erscheinung. Die Ordensfrauen sahen es als ihre Aufgabe an, professionelle Hilfe anzubieten, deshalb erweiterten sie ständig ihre medizinischen Kenntnisse. Zu ihren Tätigkeitsfeldern gehörten u. a. die Kranken- und Altenpflege, die Betreuung und Erziehung von Kindern in Waisenhäusern und Kindergärten, die Hauswirtschaft und - für die Grafschaft Glatz typisch - die Beherbergung von Kur- und Erholungsgästen. Resümierend läßt sich festhalten, daß die sozial-karitativen weiblichen Orden über eine große Strahlkraft verfügten, ihre Beliebtheit sicherte ihre Existenz, durch Professionalisierung und Fachkompetenz war ihr Angebot damals konkurrenzlos. Die Grafschaft Glatz lag bezüglich der karitativen Ordenstätigkeit nur mit geringer zeitlicher Verzögerung voll im Trend.
Im dritten Vortrag von PD Dr. August H. Leugers-Scherzberg (Saarbrücken) ging es um das Thema „Der politische Katholizismus in der Grafschaft Glatz 1871-1933“. Mit umfangreichem Zahlenmaterial veranschaulichte der Referent die Entwicklung des politischen Katholizismus, insbesondere nachgezeichnet an den Wahlergebnissen der Zentrumspartei. Sein Augenmerk galt einmal den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus nach dem Dreiklassenwahlrecht und den Reichstagswahlen nach allgemeinem, gleichem und geheimem Wahlrecht. Dabei stellte die katholische Wählerschaft der Grafschaft Glatz am Anfang der 1870er durchaus keinen monolithischen Block dar, vielmehr kam es zu Auseinandersetzungen zwischen ultramontanen und liberalen Katholiken. Erst nach 1875 wurde die Verschärfung des Kulturkampfes in der Grafschaft sichtbar, nun erhielten auch die Kandidaten des Zentrums mehr Stimmen, was bis zum Ende des Ersten Weltkrieges dazu führte, daß der Wahlkreis Glatz-Habelschwerdt zu den Zentrumshochburgen innerhalb des Deutschen Reiches zählte. So errang der Gutsbesitzer Franz Hartmann im Juni 1898 mit 89,4 Prozent das jemals beste Ergebnis für das Zentrum. Die Dominanz der Partei war so erdrückend, daß selbst ein innerparteilicher Machtkampf um die Kandidatur für die Reichstagswahl 1912 zwischen Graf Hans von Oppersdorf und dem pensionierten Gerichtsrat Sperlich ohne schädliche Auswirkungen blieb. Dieser Trend hielt auch zunächst in der Weimarer Republik an, obwohl mit der Wahlkreisneueinteilung eine Veränderung der soziologischen Zusammensetzung eintrat. Die Grafschaft Glatz gehörte nun zum Wahlkreis 7 Breslau, wobei der Katholikenanteil in der Stadt Breslau 42 und in der Grafschaft Glatz 93 Prozent ausmachte und deshalb überproportional zum Erfolg des Zentrums beitrug. 1920 war der Wahlkreis Breslau komplett durch Zentrumskandidaten aus der Grafschaft Glatz repräsentiert. Die vielen Krisen innerhalb der Weimarer Republik, die das Aufkommen rechts- und linksradikaler Bewegungen begünstigten, führten zum Niedergang der Weimarer Parteien und damit auch des Zentrums. So halbierte sich die Wählerschaft des Zentrums in Glatz von 57 auf 29 Prozent, noch schlimmer traf es den ländlichen Bereich wie z. B. Altgersdorf von 90 auf 24 Prozent, was auch dokumentierte, daß die Landwirte im Zentrum unterrepräsentiert waren. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bedeutete einen Niedergang des politischen Katholizismus, besonders in einem vom Milieukatholizismus geprägten Gebiet wie der Grafschaft Glatz.
Anschließend feierten die Teilnehmer mit Großdechant Franz Jung die hl. Messe; danach klang der Tag bei einem geselligen Beisammensein mit vielen Gesprächen aus.
Im ersten Vortrag am Sonntagvormittag stellte Reinhard Schindler (Essen) das Lebensbild einer berühmten Grafschafterin vor: „Gabriele Gräfin von Magnis (1896-1976): stille Helferin in bedrängter Zeit“. Sie wurde auf dem elterlichen Gut in Eckersdorf geboren und verbrachte dort die ersten 25 Jahre ihres Lebens, ohne eine öffentliche Schule besucht zu haben. 1921 verließ sie Eckersdorf mit dem Wunsch, Fürsorgerin werden zu wollen. Nach mehreren Ausbildungsstellen gelangte sie 1928 zur Polizeifürsorgerinnenstelle in Beuthen (Oberschlesien), wo sie sich um Prostituierte und straffällig gewordene Jugendliche kümmerte. Nach Auflösung der Arbeitsstelle 1933 stellt sie sich in den Dienst der katholischen Kirche, da sie nicht bereit war, für den NS-Staat zu arbeiten. Sie wurde zur Geschäftsführerin der Caritasstelle in Beuthen ernannt und kümmerte sich u. a. um die polnische Minderheit in Oberschlesien. Kardinal Bertram ernannte sie vermutlich 1938 zur Sonderbeauftragten für die Betreuung der katholischen „Nichtarier und Juden“ Oberschlesiens. Ein entsprechendes Dokument der Beauftragung von Gräfin Magnis liegt nach Recherchen der Historikerin Jana Leich- senring nicht vor. Oft hart am Rande der Legalität bemühte sich Magnis um die jüdische Bevölkerung und übernahm z. B. die Vormundschaft für Kinder und Jugendliche deportierter Eltern. Nach der Einnahme Oberschlesiens durch die Russen begab sich Gräfin Magnis Ende 1945 auf ihr elterliches Gut in Eckersdorf, wo sie bis zur Ausweisung der Familie im Februar 1946 wiederum segensreich wirken konnte. Sie gelangte ins Bistum Hildesheim, wo sie sich der Vertriebenenseelsorge widmete. Nach ihrer Pensionierung 1958 zog sie nach Würzburg, wo sie sich um die Pflege ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester kümmerte. Schließlich erkrankte sie Anfang 1976 schwer und starb am 8. März in einer Klinik in Andernach. Am Ende seines Vortrages präsentierte Reinhard Schindler einen Schriftwechsel mit dem Neffen, dem Missionar Graf Magnis Suseno, der verdeutlichte, daß selbst der eigenen Familie die gefährliche Mission von Gabriele Gräfin von Magnis lange Zeit verborgen geblieben war. Im nachfolgenden Vortrag stellte Manfred Spata (Bonn) den „Glatzer Arzt Dr. Emil Stephan (1872-1908): Ethnologe und Heimatdichter“ vor. Stephans Eltern besaßen den wohlbekannten Brauerei-Ausschank „Zum Goldenen Kreuz“ in der Ross-Straße. Sie ermöglichten ihm ein sorgenfreies Medizinstudium, das er 1896 in München mit der Promotion abschloß. Danach fuhr Emil Stephan ein paar Jahre als Schiffsarzt zur See und startete 1899 eine Karriere als Marinearzt im aktiven Marinesanitätskorps. Sein erster Auslandseinsatz brachte ihn nach China (Boxeraufstand). Nach weiteren Einsätzen in heimischen Gewässern beteiligte sich Stephan 1904 als Schiffsarzt auf dem Vermessungsschiff „Möwe“ an der Expeditionsreise in den Bismarck-Archipel. Hier begann er auf den Inseln Neu- Pommern und Neu-Mecklenburg als Autodidakt seine umfangreichen ethnologischen Feldforschungen, deren Ergebnisse er dem Berliner Museum für Völkerkunde überließ. Die Forschungsergebnisse veröffentlichte er in mehreren Fachartikeln und in den zwei bis heute nachgedruckten Büchern „Neu-Mecklenburg" und „Südseekunst“. Stephans Leistungen fanden die fachliche Anerkennung der Berliner Ethnologen, aber auch die kaiserliche Anerkennung in Form des Roten Adlerordens. Auf eigenen Wunsch erhielt Stephan die Leitung der „Deutschen Marine-Expedition“ auf dem Vermessungsschiff „Planet“, die 1907/08 auf zwei Jahre in den Bismarck-Archipel geplant war. Dort erkrankte er im Mai 1908 plötzlich an der tückischen Malaria; am 25. Mai 1908 starb er im Alter von 36 Jahren. In Namatanai fand er seine letzte Ruhe; die Familienangehörigen besorgten dort ein Grabdenkmal mit Inschrift, das bis heute erhalten geblieben ist. Emil Stephan blieb Zeit seines Lebens ein großer Freund der Grafschafter Heimat. Gerne kehrte er von seinen Auslandsreisen in die geliebte Heimat zurück. Über seine jugendlichen Heimaterlebnisse schrieb er schlichte einfühlsame Gedichte, die er u. a. unter dem Pseudonym Hellmuth Prinz von Sonnenschein als „Sonnen-Lieder in Kattowitz 1901 veröffentlichen ließ; einige Gedichte wurden in den GGV-Zeitschriften abgedruckt. Emil Stephan war eine bemerkenswerte ambivalente Persönlichkeit, sein Leben war geprägt von Fernweh und Heimweh. Er ist bei den Ethnologen bis heute anerkannt und auch die Grafschafter mögen sich seiner erinnern.
Im letzten Vortrag der AGG-Tagung befaßte sich Prof. Dr. Klaus Hübner (Mettmann) mit „Grafschaft Glatzer Strafprozessen vor dem Reichsgericht in Leipzig (1879-1945)“. Zunächst machte der Referent sein Auditorium mit einigen Gepflogenheiten aus dem Rechtswesen vertraut. Alle besonders wichtigen Strafurteile des Reichsgerichts, das nach der Reichseinigung als höchstes deutsches Zivil- und Strafgericht begründet worden ist, sind in der amtlichen Entscheidungssammlung RGSt. abgedruckt, wobei allerdings jeweils nur die relevanten Rechtsfragen aufgeführt wurden. Fälle, so auch beim Landgericht Glatz, dessen Gerichtsbezirk neben der Grafschaft Glatz die Kreise Münsterberg und Frankenstein umfaßte, gelangten mittels Revision vor das Reichsgericht. Insgesamt finden sich im Zeitraum von 1879-1945 in den 78 Bänden RGSt. 32 Straffälle aus der Grafschaft, deren vollständige Urteilstexte vom Bundesgerichtshof zur Verfügung gestellt wurden. Bis 1914 wurden die Gerichtsentscheidungen noch in Sütterlin abgefaßt, danach in Maschinenschrift. Exemplarisch trug der Referent ein Urteil zur Definition des sog. Goldfingers (Ringfingers) als wichtiges Körperglied aus dem Jahre 1927, das in die Strafrechtsgeschichte eingegangen ist, sowie zwei Entscheidungen zur Frage der „Unzüchtigkeit“ von Inseraten in dem in Neurode im Jahre 1901 erschienenen Wochenblatt „Der Hausfreund für Stadt und Land“ vor. Von regionalhistorischer Bedeutung war schließlich ein Strafverfahren im Jahre 1885 gegen den Neuroder Kaplan Joseph Tschoepe wegen Verstoßes gegen den sog. Kanzelparagraphen im Rahmen des vom Staat gegen die katholische Kirche geführten Kulturkampfes. Da in der Entscheidungssammlung RGSt. unter den jeweiligen „Leitsätzen“ das Gericht der Vorinstanz genannt wird, bleibt das Landgericht Glatz auf diese Weise in der Welt der Juristen präsent.
Sämtliche Vorträge sollen in Heft 18 (2019) der AGG-Mitteilungen abgedruckt werden. Das Erscheinen des neuen Heftes und die Bezugsmöglichkeit wird im Grafschafter Boten mitgeteilt werden.
Die nächste AGG-Tagung ist für den 18./19. April 2020 wiederum in Münster geplant.
Bericht von Dr. Georg Jäschke
in: „Grafschafter Bote“ Nr. 7-8/2019
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