Corona zum Trotz - die Grafschaft Glatzer Geschichtsarbeit geht weiter
Das 20. Heft der AGG-Mitteilungen ist erschienen
Die Corona-Pandemie hat uns in den vergangenen Monaten alle stark betroffen und eingeschränkt. Auch die vorbereiteten Jahrestreffen der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz (AGG) konnten 2020 und 2021 nicht stattfinden. Die geplanten Vorträge mit ihren anschließenden Aussprachen und Diskussionen entfielen. Zur Wahrung der Kontinuität der AGG-Arbeit mit Grafschaft Glatzer Themen erklärten sich die vorgesehenen Referenten bereit, ihre Druckmanuskripte für ein weiteres AGG-Heft zur Verfügung zu stellen, so wie es bereits mit dem Heft 19 (2020) der AGG-Mitteilungen geschehen ist.
Im Vorwort betont der Leiter der AGG, Prof. Dr. Klaus HÜBNER, daß das neue Heft Nr. 20 gerade 20 Jahre nach der Gründung der Arbeitsgemeinschaft durch Dr. Dieter Pohl (1934-2020) erscheint. Das Heft ist seinem Gedächtnis und darüber hinaus allen früheren und heutigen Bewohnern des Glatzer Landes gewidmet (siehe Bericht Hübner im „Boten“ 10/2011, Seite 13).
Portrait und Wappen des Johannes Crato von Kraftheim (Jaschke 1928)
Der erste Beitrag von Prof. Dr. Arno HERZIG beleuchtet „Die Beziehungen des schlesischen Humanisten Johannes Crato von Kraftheim zur Grafschaft Glatz“ und sein Wirken als Stadtphysikus in Breslau, als kaiserlicher Leibarzt in Wien und Prag sowie als Gutsherr in Rückers. Dort verbrachte Crato (1519-1585) seinen Lebensabend und dort plante er eine eigenständige Pfarrei, losgelöst von der benachbarten Pfarrei Reinerz; dazu besorgte er den Bau einer Kirche, die Anlage eines Friedhofs und den Bau eines Schlosses. Die Erinnerung an Johannes Crato blieb in Rückers erhalten, wenn auch seine Bauten die Zeiten nicht überstanden. In einem Anhang erwähnt der Herausgeber Prof. Dr. Klaus Hübner die Errichtung eines Gedenksteins an Crato 1934 in Rückers, der aber nach 1946 beseitigt wurde.
Prof. Dr. Michael HIRSCHFELD referiert über „Die Kirchenpatronate der Grafschaft Glatz - Annäherungen an eine fast vergessene Instanz“. In Böhmen und Schlesien hatten zumeist die Landesherren oder die Grundherren die Patronate inne; diese bestanden aus Rechten (Besetzung der Pfarrstellen) und Pflichten (Baulast). Auch nachdem das preußische Allgemeine Landrecht (ALR) von 1794 ein landesherrliches Patronatsrecht verneint hatte, blieb es bis in die Zeit der Weimarer Republik erhalten. Und auch der Klerus vor Ort bemühte sich um den Erhalt der Patronatsrechte, weil aus den Patronatspflichten erhebliche finanzielle Vorteile für die Kirchengemeinden resultierten.
Im dritten Beitrag berichtet Manfred SPATA über „Die Grafschaft Glatz im Blaeu-Atlas 1641 - Beschreibung der Landkarte COMITATUS GLATZ“. Dabei handelt es sich um eine der frühesten und schönsten Landkarten der Grafschaft Glatz; sie beruht auf der Handzeichnung des Georg Aelurius, die in seiner Chronik „Glaciographia“ von 1625 abgedruckt worden war. Die Blaeu-Karte gefällt durch ihren feinen Stich, ihren unverwechselbaren Kartuschenschmuck und eine gelungene Flächenkolorierung. Auf der Rückseite des Kartenbildes druckte Blaeu eine lateinische Beschreibung der Grafschaft Glatz, die hier in einer deutschen Übersetzung dem Leser erstmals vorgestellt wird.
Titel der Blaeu-Karte 1641
Die Blaeu-Karte „Comitatus Glatz“ kann bei Wikimedia Commons eingesehen werden unter:
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Blaeu_1645_-_Comitatus_Glatz.jpg
ln dem vierten umfangreichen Beitrag „Heimatliche Kalender-Jahrbücher der Grafschaft Glatz vor 1945“ stellt Dr. Wolfgang KESSLER zahlreiche Periodika vor. Es beginnt mit dem „Gebirgsboten- Kalender“ 1877-1884, gefolgt von der dreißig Jahre währenden hohen Zeit der Kalenderdrucke 1911-1942. Dabei sind verschiedene Herausgeber zu unterscheiden, vor allem Robert Karger und August Walzel, und die Ausgaben „Guda Obend“ 1911-1942, „Grofschoftersch Feierobend“ 1923-1933, „Grafschafter Volkskalender“ (Arnestus-Kalender) 1922-1933 sowie „Glatzer Heimatkalender“ 1925-1927. Für diese Kalendervielfalt arbeiteten überwiegend einheimische Schriftsteller, Künstler und Fotografen; diese Kalender-Jahrbücher sind eine bisher noch nicht ausreichend gehobene Quelle zur Kulturgeschichte der Grafschaft Glatz.
Guda Obend! Titel 1915
Das bisher in der Grafschafter Literatur wenig beachtete Thema der „Auswanderung aus der Grafschaft Glatz“ behandelt im fünften Beitrag Jos DE WIT, der selbst einen ausgewanderten Glatzer zu seinen Vorfahren zählt. Über diesen Vorfahren, der sein Glück in den Niederlanden fand, schrieb de Wit 2019 ein Buch. Auswanderungen gab es früher schon immer. Die Gründe waren recht verschieden, häufig existentieller Art wie Krieg, Seuchen oder Hungersnot, teils waren Zwangsausweisungen der Landesherren wegen religiöser Belange oder wirtschaftliche und persönliche Gründe der Auslöser. Die Auswanderungsziele der Grafschafter lagen in Preußen (Hauptstädte Breslau und Berlin, Ruhrgebiet) oder in Nordamerika (Pennsylvania). Eine große Fluchtbewegung von Juden und politisch Verfolgten wurde nach 1933 durch die NS-Schreckensherrschaft ausgelöst, die letztlich die massenhafte Vertreibung aus der ostdeutschen Heimat nach 1945 zur Folge hatte - das Schicksal auch der Grafschaft Glatzer Bevölkerung.
Ein besonderes Stück Volkskunst stellt Roxanne SCHINDLER im sechsten Thema vor: „Ein mechanisches Passionstheater aus der Grafschaft Glatz“, das in zwanzig Szenen die Passion Christi dem Betrachter lebhaft vor Augen führt (siehe S. 20). Das Objekt in der Größe 1,3 x 1,6 x 0,5 Meter stand Jahrzehnte unbemerkt, aber auch ungeschützt bzw. ungepflegt in einem Nebenraum der Glatzer Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt. Durch Vermittlung des deutschen Generalkonsulats in Breslau konnte das Objekt an die Hochschule für Bildende Künste in Dresden vermittelt werden, wo es im Rahmen der Diplomarbeit der Referentin umfassend restauriert wurde. Die Herkunft des Kunstwerks ist unklar; es könnte entweder vom Neuroder Holzbildhauer Franz Reßler um 1850 oder auch vom Albendorfer Krippenbauer Josef Birke nach 1862 gefertigt worden sein (siehe Grafschafter Bote 12/2020, S. 7 und 1/2021, S. 29). Nach der Restauration soll dieses seltene Passionstheater wieder im Innenraum der Pfarrkirche sicher ausgestellt und den Besuchern zugänglich gemacht werden.
Das mechanische Passionstheater, Gesamtansicht der Vorderseite nach der Restaurierung
(Foto: Kerstin Riße, 2019)
Im siebenten Beitrag „Die Grafschaft Glatz in den 1860er Jahren - statistisch dargestellt“ befaßt sich Prof. Dr. Klaus HÜBNER mit den Berichten der drei Grafschafter Landräte, die sie auf Grund eines Ministerial-Rescripts von 1859 für das Innenministerium in Berlin fertigten. Diese „Statistische Darstellung“ erschien für die Kreise Glatz und Neurode 1863, für Habelschwerdt 1869. Die Inhalte der teilweise umfangreichen Berichte sind gut vergleichbar, da sie einem 25 Punkte umfassenden vorgegebenen Schema folgen. Der Habelschwerdter Bericht, der „aus alten Urkunden und amtlichen Quellen zusammengestellt“ wurde, enthält umfangreiche Ortsbeschreibungen. Diese statistischen Darstellungen enthalten eine Fülle an regionalen und lokalen Informationen, die noch heute für spezielle Untersuchungen zu Grafschaft Glatzer Themen und Personen von Belang sind.
Zuletzt geben der Herausgeber Klaus HÜBNER und der Redakteur Manfred SPATA einen Überblick zu „FGG (1990-2001) und AGG (2001-2021): 30 Jahre Beiträge zu Kultur und Geschichte der Grafschaft Glatz“. Sie bilanzieren in der Autorenliste die FGG- und AGG-Forschungsarbeit, die von Dr. Dieter Pohl begründet und lange Jahre geleitet wurde und dem die Herausgabe der Schriftenreihe „AGG-Mitteilungen“ zu verdanken ist. Seither sind 40 Referenten/Autoren und fast 140 Vorträge/Beiträge zu zählen; bezieht man die FGG-Tagungen von 1990 bis 2001 mit ein, so kommen mehr als 180 Titel zusammen, deren Themenvielfalt beträchtlich ist. Die meisten Artikel erschienen in den bisher 20 Heften der AGG-Mitteilungen, einige wenige Artikel wurden andernorts publiziert, u. a. im Jahrbuch der Grafschaft Glatz (bis 2020), im Altheider Weihnachtsbrief (bis 2017), im Grafschafter Boten oder in eigenständigen Druckschriften.
Die vorgestellten Beiträge liegen seit dem Herbst 2021 als „Jubiläumsheft“ 20 der AGG- Mitteilungen gedruckt vor und können bei Gerald Doppmeier (Rietberg), E-Mail: gerald (at) g-doppmeier . de, bezogen werden, wie auch alle vorherigen AGG-Hefte. Die nächste AGG-Tagung ist für den 21./22. Mai 2022 wieder im Franz-Hitze-Haus in Münster geplant - hoffen wir auf ein Ende der Corona-Pandemie.
Manfred Spata (Bonn)
in: Grafschafter Bote, 11/2021
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